Sonntag, 26. Juli 2015

Frauen werden älter als Männer, und das sieht mann ihnen an.

aus NZZ am Sonntag, 26.7.2015, 01:00 Uhr

Frauen und das Alter
Das Madonna-Syndrom
Das Alter steht den Männern besser als den Frauen – so will es das hartnäckige Vorurteil, an dem auch der Feminismus bisher nichts zu ändern vermochte. Schuld daran ist aber nicht das Patriarchat, sondern dass der Sex-Appeal in unserer Gesellschaft überbewertet wird.

von Barbara Höfler

Im Traum und im Kino ist alles möglich. Im Kino vor allem für Männer. Alte Haudegen küssen dort regelmässig sehr viel jüngere Partnerinnen. Ein Age-Gap von über 30 Jahren ist üblich. Bruce Willis mit 55 Jahren und Jessica Alba, 24 («Sin City»). Bill Murray mit 53 Jahren auf Scarlett Johansson, 18 («Lost in Translation»). Jeff Bridges, damals 60, mit Maggie Gyllenhaal, damals 31 («Crazy Heart»). Mittlerweile ist Gyllenhaal 37 Jahre alt, und wie die Schauspielerin nun preisgab, wurde sie vor kurzem für die Rolle der Geliebten eines 55-Jährigen abgelehnt. Zu alt. Also – sie.

In Bezug auf eine Branche, deren Substanz die Oberfläche ist, wundert einen das im ersten Moment nicht. Dann aber schon, bedeutet es doch, dass man den Zuschauern Nahaufnahmen einer 37-Jährigen erspart, die Konfrontation mit einem 55-jährigen Mann ästhetisch aber für unbedenklich, wenn nicht für erstrebenswert hält. Und hier weist das Anekdötchen über Hollywood hinaus. Denn Altern, das scheint auch im realen Leben für ziemlich viele Männer ein Upgrade. Für die allermeisten Frauen dagegen eine Reise in die tiefste Nacht.

«Das Alter ist das schlimmste Unglück, das einem Menschen widerfahren kann», wusste 2500 v. Chr. schon der ägyptische Philosoph Ptahhotep. Altern ist der Highway zum Tod. Gepflastert von Verlust, dem Nachlassen von allem: Ausdauer, Muskelkraft, Augenlicht, Hörvermögen, Gehirnleistung, Schlafqualität, Schönheit, Freundeskreis. Erfahrungsberichte über das Altern liegen uns seit Ptahhotep von allen grossen Denkern vor, doch die erschütterndsten stammen von Denkerinnen. Der Verlust der sexuellen Attraktivität scheint für Frauen seit Jahrhunderten derart existenziell, dass Susan Sontag 1978 die These aufstellte, das Altern selbst sei weiblich.

Alter als Krankheit

Im Essay «The Double Standard of Aging» erklärt Sontag, dass es für Frauen eben schlicht nur ein sanktioniertes Schönheitsideal gebe: das des Mädchens kurz nach der Geschlechtsreife. Schon der Übertritt vom Mädchen zur Frau werde als ästhetischer Absturz gewertet. Eine Frau altere deshalb nicht erst biologisch, sondern sozial dazu verurteilt bereits ab dem Zeitpunkt, an dem sie nicht mehr jung ist. Das Altern der Frauen, so Sontag, sei eine «gedachte Krankheit».

Ein millionenschwerer Industriezweig melkt heute die Ängste 20-Jähriger vor ersten Augenfältchen. Ein Alter, in dem die Ehrgeizigsten sich bereits seit Jahren auf Diät befinden, um ihren Kinderkörper wiederherzustellen. Die Falten kommen trotzdem. Und dann das Klimakterium: mit Schweissattacken und Herzrasen auf dem Weg in die Unfruchtbarkeit.


Trunkene Alte, Rom (Kopie)

Über ihre Wechseljahre notierte Simone de Beauvoir, die Menschen, die ihr begegneten, sähen nur eine Fünfzigjährige. «Ich aber sehe meinen früheren Kopf, den eine Seuche befallen hat, von der ich nicht mehr genesen werde.» Ob Bruce Willis, Bill Murray und Jeff Bridges sich so je fühlten?

Es ist Fakt: Männer altern anders als Frauen. Biologisch welken Männer ohne nennenswerte Tiefpunkte vor sich hin, sie «können» theoretisch bis ins hohe Alter. Sie altern aber auch sozial anders – vor allem sehr viel später. Für sie gibt es laut Sontag zwei Ideale, und biografisch gleiten sie von einem ins andere: vom androgynen Knaben zum männlichen Mann. Und während alle weiblichen Qualitäten im Alter verschwinden, nehmen die männlichen auf dieser Achse noch zu: Souveränität, Autorität, Weisheit, Macht.

Selbst mit Glatze, Falten und Übergewicht ist das Ende der männlichen Verführungskraft nicht erreicht. Den körperlichen Verfall können viele mit Erfolg, Prestige und Geld ausgleichen. Das Schicksal, für eine Jüngere verlassen zu werden, ist Topos einer Frauenbiografie. Geschieht es doch einmal umgekehrt, gilt der Spott ihr. Siehe Vera Dillier.

In der sogenannten Jetsetterin Vera Dillier verdichtet sich vielleicht ohnehin das ganze Drama des weiblichen Alterns. Sie verschweigt ihr Alter seit Jahrzehnten, wie viele Frauen, nur vulgärer («Ich bin für immer 21, ihr Tubel!»). Und sie versinnbildlicht wie Cher oder Donatella Versace die Aussichtslosigkeit im Kampf um den Erhalt der Jugend, sprich: der sexuellen Attraktion.

Ein Kampf, der in solariumsbraunen Gesichtern aushärtet, unter aufgespritzten Falten viskos nachgibt und auf Mikroebene mit Co-Enzym Q10, Retinol, Kollagen und Botox gegen den Tod kleiner, unablässig sterbender Zellen antritt. Über die Nacktbilder, die Dillier diesen Frühling von sich und ihrem Freund Josef, 29, aus Tschechien veröffentlichen liess, lässt sich gesellschaftlich abgesichert lachen. Der Toyboy und die Alte. Das ist die Härte. Doch allen Härten zum Trotz: So leicht wie heute war Altern für Frauen noch nie.

Alte Frauen galten generell als «einfältig und dumm». «Alt» und «hässlich» waren ein und dasselbe Wort.

Das aussagekräftigste Kapitel der Geschichte von Frau und Alter ist gleich einmal eines, das nicht existiert: Es hat niemand geschrieben, denn in historischen Altersdiskursen kommen Frauen so gut wie nicht vor. Ein Trost: Auch jenen, die vorkommen, den alten Männern, kam lange keine positive Rolle zu. Bei den Eskimos sollen die Alten überredet worden sein, sich in den Schnee zu legen und auf den Tod zu warten. Manchmal «vergass» man sie bei der Fischjagd auf Eisschollen oder mauerte sie in Iglus ein. Herodot berichtet von Stämmen im Kaukasus, die ihre kranken Senioren töteten – und die Gesunden unter ihnen assen.

Ehrung der Alten und Fürsorge leisteten sich erst Gesellschaften mit funktionierendem Ackerbau und Viehzucht, in denen es auf die Weitergabe der gesammelten Erfahrungen ankam. Das lebensrettende Senioritätsprinzip sicherten Traditionen und Rituale des Ahnenkultes – von dem aber nur Männer profitierten. Ihnen schrieb man Alterswerte wie Weisheit, Autorität und Erfahrung zu, Eigenschaften, die noch in der Antike mit Frauen ebenso wenig wie mit Sklaven verknüpft wurden. Alte Frauen galten laut dem Althistoriker Jens-Uwe Krause generell als «einfältig und dumm». «Alt» und «hässlich» waren ein und dasselbe Wort. In Stein gemeisselt in Gestalt der «Trunkenen Alten», einer der wenigen weiblichen griechischen Statuen: enthemmt, entstellt, entsetzlich.

Angespuckt und gequält

Ein weiteres seltenes Kunstwerk mit alter Frau als Motiv zeichnete 1514 Albrecht Dürer: seine Mutter Barbara. Eine Horrorgestalt. Im Gesicht 18 Kinder, «Pestilenz (. . .) Verspottung, Verachtung, höhnische Wort’, Schrecken und grosse Widerwärtigkeit», so Dürer in der Unterzeile. Alte wurden gehänselt, angespuckt, gequält. Selbst wenn das Christentum forderte, Vater und Mutter zu ehren. Im 16. Jahrhundert wurden Gesetze notwendig, die Kindern mit Haft und Todesstrafe drohten, wenn sie die Eltern nicht weiter unterstützten. So viel zur Realität des trauten Mehrgenerationenhauses.

Die Mutter Albrecht Dürers.

In Notwehr übergaben viele Altvordere ihre Höfe erst so spät wie möglich. In seiner «Geschichte des Alters» legt Peter Borscheid dar, dass der Hass auf die Alten und der Ekel vor ihren entstellten Körpern gerade in Hungersnöten und Pestzeiten alle Hemmungen verlor. Besonders traf es dann wieder die alten Frauen, von denen Erasmus von Rotterdam als von «wandelnden Leichnamen» mit «schlaffen und widerlichen Brüsten» sprach. Von «stinkenden Gerippen, die überall einen Grabesgeruch verbreiten».

Im 17. Jahrhundert kamen Scherze über die «Altweibermühle» in Mode, in die man Frauen steckt, die «alssdann ihren Männern wider gantz anmuttig vnd erfrewlich zugestellt» werden, so die Erläuterung eines zeitgenössischen Kupferstiches. In dieselbe Kerbe schlägt der «Jungbrunnen» von Lucas Cranach dem Älteren: Auf dem Gemälde aus dem Jahr 1546 schleppen gutaussehende Männer hässliche alte Frauen zum Bassin, die dann am gegenüberliegenden Beckenrand als Mädchen wieder auftauchen und zum Festbankett abgeholt werden. Ein Schenkelklopfer. Und erster Artefakt des Traumes der künstlich verlängerten Jugend – der Frau.


Jungbrunnen von Lucas Cranach dem Älteren.

Woher aber rührte die gnadenlose Ablehnung des weiblichen Alters? Licht ins Dunkel bringt für Genderforscher insbesondere der Umgang früherer Gesellschaften mit Witwen. Zum einen zeigt sich dabei: «Alt» war schon immer relativ. Denn eine Witwe, auch wenn sie erst fünfundzwanzig Jahre alt war, galt als Gebrauchsware in jedem Fall als alt. Zum anderen wird an Witwen deutlich, dass der Hauptdaseinszweck der Frau jahrhundertelang eben ausschliesslich in der Nachwuchsproduktion lag.

In «Growing Old in American History» beschreibt der Pulitzerpreisträger David Hackett Fischer, wie Witwen in frühen amerikanischen Kolonien von ihren Nachbarn in entlegene Gegenden gefahren und dort ihrem Schicksal überlassen wurden. Denn ihres Brötchengebers – und Sexualpartners – beraubt, waren diese Frauen für das Normgefüge eine wirtschaftliche und moralische Gefahr. Jenseits der Gebärtätigkeit gab es für sie keine sozial adäquate Rolle. Eine Wiederverheiratung war in solchen Kleinstdörfern aber kaum möglich. Wenn eine Frau ihre Daseinsberechtigung schon verlor, sobald nur der Ehemann temporär fehlt, wird klar, warum sie restlos als Ballast galt, sobald ihre Reproduktionstätigkeit biologisch stoppte. Unfruchtbarkeit war Metapher für das Leere, Sinnlose, Vergänglichkeit und Tod. Bekämpft mit maximaler Abwertung.

Grossmutter-These

Dass eine alte Frau auch gut sein kann, ist eine frappierend junge Idee. Sie stammt aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Als Folge der Durchsetzung der bürgerlichen Familien-Ideologie entstand die Figur der Grossmutter. Ein gnädiges, der Kinderliebe verpflichtetes Wesen, das seine Mutterpflicht im Alter in Bemutterungslust umwandelt und der Arbeitsentlastung der wahren Mutter andient.

Im Nachhinein entwickelte sich daraus die «Grossmutter-These» des Evolutionsbiologen Eckart Voland. Voland fragte in diesem Jahrhundert ernsthaft, welche Lebensberechtigung Frauen jenseits der Wechseljahre hätten – und fand sie ursächlich in der speziesbefördernden Kinderbetreuung als Grosi angelegt. Wie viel Spass diese neue Rolle vielen Frauen tatsächlich gemacht haben dürfte, zeigt Volands Studie auch noch auf. Nach Sichtung der Daten aus sieben Ländern und Tausenden Kirchbucheinträgen des 18. und 19. Jahrhunderts fand sein Team zwar bestätigt, dass die Überlebenschancen eines Säuglings signifikant stiegen, wenn die Grossmutter zugegen war – aber nur die mütterlicherseits. Befand sich die Grossmutter väterlicherseits auch bloss im Nachbardorf, erhöhte sich die Kindssterblichkeit im ersten Lebensmonat um sechzig Prozent. Lebte diese Frau im selben Ort, sogar um 150 Prozent.

Offenbar bekam es nicht jeder Frau gut, als Babysitter des Balges einer Jüngeren abgestellt zu werden, die einem obendrein den Hof, den Sohn und die bitter erkämpfte gesellschaftliche Stellung wegnahm. Ein alternativer Lebensentwurf war für Frauen damals aber wieder nicht in Sicht. Denn die gesammelte Ablehnung konzentrierte sich nun auf die kinderlos alternde Frau – die Xanthippe, die Tante. Die alte Jungfer, die den Jungen die Jugend neidet, hässlich, hasszerfressen – der Inbegriff des sozialen Versagens. Der Segen des Alters scheint in der Vita contemplativa zu liegen, die Welt ohne den Schleier der Hormone zu sehen.

«Doing aging» lautet das Stichwort, unter dem die amerikanische Genderforschung die Konstruiertheit des weiblichen Alters schon länger untersucht. Im deutschsprachigen Raum hat sich 2014 mit als Erste Bascha Mika an einem Schlüsselwerk versucht. In ihrem Buch «Mutprobe. Frauen und das höllische Spiel mit dem Älterwerden» klagt die ehemalige Chefredaktorin der «Tageszeitung» über «patriarchale Herrschaftsstrukturen», die Frauen ab fünfzig gesellschaftlich «unsichtbar» machten. Der sexuelle Verfall einer Frau führe unweigerlich in die sexuelle Diskriminierung. Beruflich und privat nur noch Nachteile und Ausgrenzung. «Politik und Institutionen, Medien und Märkte» müssten zur Verantwortung gezogen werden, um auf dem Feld des Älterwerdens für Gleichberechtigung zu sorgen.

Fast wartet man noch auf den Aufruf, Männer gesetzlich dazu zu verpflichten, ältere Frauen sexuell attraktiv zu finden. Das Problem ist nur: Das wird so nicht klappen. Und das Problem ist vielleicht auch ein anderes: der extrem hohe Stellenwert von Sex und Sex-Appeal als gesellschaftliche Macht.

Wie schade! Denn fassen wir die Lebenssituation von Frauen unseres Kulturkreises am Anfang des 21. Jahrhunderts zusammen, sehen wir eigentlich: Es ist für die Frauen unwahrscheinlich gut vorangegangen, gerade in den letzten Jahrzehnten seit de Beauvoirs herzerschütternder Klage. Keine Frau ist heute mehr gezwungen, Ehefrau und Mutter zu werden. Wer Enkelkinder hat, muss sie nicht zwangsläufig versorgen, es gibt Krippen und Kindergärten dafür. Frauen dürfen single bleiben, lesbisch werden, polyamourös. Sie können sich einen Toyboy holen, ohne in ein Iglu eingemauert zu werden, und tun das auch immer mehr.

Frauen wie Männer altern heute obendrein wesentlich später, auch optisch. Erstklassige Ernährung, dauerhafter Frieden, medizinische und kosmetische Fortschritte machen es möglich. Ein eigenständiges, selbstbestimmtes Seniorenleben ausserhalb familiärer Zwangsstrukturen ist heute dank Rentensystem und Sozialfürsorge ebenfalls möglich. Und wenn eine will und genügend Geld investiert, kann sie sich wie Vera Dillier noch weit jenseits der Schallmauer des Klimakteriums fühlen wie eine 21-Jährige. Die Frage ist nur: Warum sollte man das wollen? Warum erscheint es so wichtig, bis zuletzt Akteur auf dem Sexualmarkt zu bleiben?

Schleier der Hormone

Als Frau in Maggie Gyllenhaals Alter mag die Verfasserin sich irren. Aber der grosse Segen des Alters scheint doch gerade in der Vita contemplativa zu liegen. Das, was Hermann Hesse die «Hingabe an das, was die Natur von uns fordert» genannt hat. Frei von den Leidenschaften und Begierden der Jugend die Welt ohne den Schleier der Hormone zu sehen. Nicht in Konkurrenz stehen, nicht prahlen müssen, all den Tand an sich vorüberziehen zu lassen. Sein. Nicht werden. Vielleicht auch Partnerschaft noch einmal anders begreifen. Nicht als gemeinsames Mass an MTV-Tauglichkeit, sondern als Vertrautheit, Summe der gemeinsamen Unternehmungen, wechselseitiges Wohlwollen, Fürsorge und gemeinsame Weltsicht.

Wenn das Alter nur die Verlängerung von bereits in der Jugend unhaltbaren Ansprüchen und Dummheiten ist, wird es ganz ohne Zweifel tiefste Nacht. Es schleift uns mit allen Gebrechen und Qualen ja nur mit – auf einen ganz anderen Konflikt zu, den letzten. Die Endphase des menschlichen Daseins ist ja primär ein ontologisches Problem. Per definitionem unlösbar. Ein metaphysischer Skandal. Der moderne Mensch befindet sich sein Leben lang auf der Flucht davor.

Die Sorge um den Verlust der Schönheit ist da vielleicht nur eine weitere Ausweichbewegung. Ein Fluchtimpuls vor der finalen Konfrontation, die gerade in einer Gesellschaft des endless summer und der zum Lebenszentrum stilisierten Jugend so stark verdrängt wird wie wohl niemals zuvor. In «Die Kunst des Älterwerdens» macht der britische Schriftsteller John Cowper Powys aber gerade den Frauen Mut: In ihrer Leidensfähigkeit, jahrhundertelang geschult, seien sie besser als Männer gerüstet, dem Alter und dem Tod zu begegnen. Die sicherste Strategie, das Unglück zu überstehen, laut Powys: bloss nicht Yoga, nicht Religion, bitte keine Askese. Sondern hemmungsloser Hedonismus und die Unsicherheit zur Norm erheben.

Darf man lügen? Soll man?

Der einfachste Weg, sich jünger zu machen: beim Alter lügen. Ein weiblicher Ritus, aber darf man das? Moralisch spreche nichts dagegen, fand Susan Sontag. Es sei Notwehr in einer Gesellschaft, die einen ständig zur Angabe des Geburtsdatums zwingt, aber Nachteile daran knüpft – etwa bei der Job-Bewerbung. Aus politischen Gründen rät Sontag dennoch vom Schummeln ab. Gerontologen auch: Wer sich als jünger ausgibt, mache alles nur schlimmer. Er distanziert sich damit von seinem künftigen Selbst und gibt Ängsten und Horrorvorstellungen damit erst recht breiten Raum.


Nota. - Als in Frieden altgewordener Mann kann ich nur zustimmen: Zwar zwickt es hier und da und manches geht nicht mehr ganz so leicht von der Hand, aber das mit der Vita contemplativa hat was für sich; ein Upgrade gewissermaßen, das stimmt schon. Und dass man mich nun nicht mehr allezeit als sexmachine beanspruchen will, ist erholsam. Es war ein mählicher Übergang zwischen zwei Idealen  - "und biografisch gleiten sie von einem ins andere: vom androgynen Kna- ben zum männlichen Mann." 

Dem will ich aber doch endlich mal anfügen: Am kulturellen Phänotyp der Knaben ist nichts "androgyn". Das Wort mochte für Viscontis üppigen Tadzio passen, aber schon und gerade bei Michael Jackson war es völlig deplaziert. Das "Gyne" sind die satten Rundungen und Kurven wie bei Anita Ekberg, der Lollo, Marilyn Monroe und der Venus von Willendorf. Knabenhaft dagegen heißen Frauen, wenn sie aussehen wie Twiggy. 

Diese Sprachverwirrung hat aber einen perfiden Grund, und den gilt es zu entlarven: "Nichts affektiert unsere Damenwelt mehr als den Schein des Kindlichen", sagt Friedrich Schiller - und weist darauf hin, dass das Kokettieren der Weiber mit der Kindlichkeit ein modernes, jedenfalls ein Zivilisationsphänomen ist: Bei Jägern und Sammlern gänzlich unbekannt, aber auch noch über Jahrtausende des bäurischen Lebens! Kindlich will erst das Luxusweibchen scheinen, und muss es wohl, denn als Zuchtstute taugen die Ehefrauen, und als solche werden sie ausgewählt. Dagegen kommt man, nein frau nur als Engelchen an - oder gleich als Hure.

In beiden Fällen darf sie nicht altern, womit wir zurück beim Thema sind.
JE

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