Dienstag, 6. Dezember 2016

Kaum lässt der Selektionsdruck nach...

Nordirak
aus scinexx

Evolution: 
Schmalere Becken durch Kaiserschnitt?
Modell zeigt evolutionäre Auswirkung des medizinischen Fortschritts

Erstaunliche Anpassung: Die regelmäßige Durchführung von Kaiserschnitten hat sich in den letzten Jahrzehnten auf die Anatomie von Frauen ausgewirkt, wie ein Modell nun zeigt. Demnach wird das weibliche Becken immer schmaler - und ist als Folge in Relation zum Kindskopf oft zu klein. Den Grund dafür sehen die Forscher in der Evolution: Dank der Möglichkeit der Geburt per Operation fehle der Selektionsdruck hin zu einem breiteren Becken.

Immer mehr Babys werden per Kaiserschnitt geboren. In Brasilien sind es sogar mehr als die Hälfte. Viele Wissenschaftler halten den Trend hin zur Geburt per Operation für ein rein soziales Phänomen. Denn die Rate der Geburtsprobleme, die einen operativen Eingriff nötig machen, ist um ein Vielfaches geringer. "Das stimmt, aber eben nicht ganz", sagt Philipp Mitteröcker von der Universität Wien. Er und seine Kollegen haben den Zusammenhang zwischen Kaiserschnitten und Geburtsproblemen untersucht - und Erstaunliches festgestellt. 

Die Datenanalyse der Mediziner zeigt: Tatsächlich hat in den vergangenen Jahrzehnten auch die Anzahl der "echten" Geburtsprobleme zugenommen - allen voran das sogenannte Becken-Kopf-Missverhältnis. Seit den 1960er Jahren steigt demnach die Zahl der Frauen, deren Becken relativ zur Größe des Fötus zu schmal ist - und damit die Gefahr, dass der Kopf des Kindes bei der Entbindung nicht durch den Geburtskanal passt. 

Fortschritt fördert anatomische Missverhältnisse 

Doch warum ist das so? Die Wissenschaftler glauben: Die Evolution ist schuld. Während vor der Entwicklung des Kaiserschnitts in den 1950er Jahren eine Geburt noch für bis zu sechs Prozent der Frauen tödlich endete, können dank der modernen Medizin heute auch Frauen mit sehr schmalem Becken gefahrlos entbinden. Die Folge: Aus evolutionsbiologischer Sicht entfällt der Selektionsdruck hin zu einem breiteren Becken. 

Mithilfe eines Modells haben Mitteröcker und seine Kollegen berechnet, dass die regelmäßige Durchführung von Kaiserschnitten zu einer evolutionsbedingten Zunahme der Becken-Kopf-Missverhältnisse von zehn bis zwanzig Prozent geführt hat. Ihnen zufolge reichen etwa zwei Generationen, bis sich die Fortschritte in der Medizin in unserer Biologie abzeichnen. Demnach sei die Evolution auch beim modernen Menschen am Werk.

Das Dilemma des Frauenbeckens 

Dass Frauen überhaupt mit anatomischen Problemen bei der Geburt zu kämpfen haben, ist allerdings ein evolutionärer Sonderfall: Eigentlich müssten Gene, die für zu schmale Becken und zu große Föten sorgen, längst ausgestorben sein, da Frauen mit einer solchen Veranlagung früher selten die Geburt überlebt haben. 

Wissenschaftler vermuten den Grund für diese vermeintliche Fehlanpassung im aufrechten Gang: Als der Mensch auf diese Weise zu gehen begann, entwickelte er ein schmales Becken. "Dies ist aus evolutionärer Sicht für unsere Fortbewegung von Vorteil", sagt Mitteröcker. Das Dilemma: Auf der anderen Seite erhöhen sich die Überlebenschancen eines Babys, je größer es bei der Geburt ist. Hier kommen sich demnach der Selektionsdruck hin zu schmaleren Becken und jener hin zu größeren Babys in die Quere.

Die Fitnesskurve hat sich stark verschoben und die Diskrepanz zwischen der Größe des Fötus und des Geburtskanals nimmt zu.
Die Fitnesskurve hat sich stark verschoben und die Diskrepanz zwischen der Größe des Fötus und des Geburtskanals nimmt zu.

Kaiserschnitt verschiebt Fitnesskurve 

Was dieses Dilemma für die individuelle Fitness einer Frau bedeutet, haben die Forscher in ihrem Modell nachgezeichnet - und dabei auch den Effekt des Kaiserschnitts deutlich machen können: "Für unsere Fitnesskurve heißt das: Je schmaler das Becken und je größer das Kind, umso besser – aber eben nur bis zu dem Punkt, an dem das Kind nicht mehr durchpasst: Dann wird es abrupt fatal", erklärt Mitteröcker.

Diesen Punkt markiert die sogenannte "Fitnessklippe" im Modell des Teams. Deutlich ist dabei zu sehen: Die Fitnessklippe hat sich seit der regelmäßigen Anwendung des Kaiserschnitts stark verschoben. Da wir am Becken-Kopf-Missverhältnis nicht mehr sterben, werden die Becken schmaler und natürliche Geburten tendenziell problematischer. 

Nicht nur ein soziales Phänomen 

Für die Forscher ist das ein eindeutiger Beleg dafür, dass die Zunahme von Kaiserschnitten zwar auch, aber nicht nur, ein soziales Phänomen ist: "Auch die Geburtsproblematik hat zugenommen, wenngleich in einem viel geringeren Ausmaß als die Kaiserschnitte", sagen sie. 

Wie Mitteröcker und seine Kollegen betonen, gehe es ihnen allerdings nicht darum, den Kaiserschnitt in Frage zu stellen - sondern vielmehr um Grundlagenforschung: Sie hätten zum ersten Mal mathematisch beschrieben, wie die Medizin den Lauf der Evolution verändert und wie schnell. In Zukunft könne dieses Modell auch in anderen Bereichen eingesetzt werden. (Proceedings oft he National Academy of Sciences, 2016; doi: 10.1073/pnas.1612410113)

(Universität Wien, 06.12.2016 - DAL) 


Nota. - Das ist des öftern schon bemerkt worden: Die Evolution durch Selektion geschieht gelegentlich viel rascher, als der gesunde Menschenverstand sich träumen lässt. Aber so rasch wie hier, im Verlauf von nur zwei Generationen - das wäre schon schwindelerregend! Doch Obacht: Hier geht es nicht um einen ruckartigen Effekt eines Selektionsdrucks, sondern um den ruckartigen Effekt des Fortfalls eines Millionen Jahre alten Selektions- drucks. Vorwärts ist, in der Natur wie im Menschenleben, etwas sachlich Anderes als rückwärts.

(Letzteres würfe ein neues Licht auf das Mysterium der Neotenie und das Dogma von der Unumkehrbarkeit physiologischer Spezialisierungen: Es müsse derselbe Selektionsdruck stets andauern, sonst könne ein evolutionärer Rückfall jederzeit eintreten... Ist das wieder so eine Rache Lamarcks an Darwin?)
JE




 

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